Page 12 - Jahrbuch 2020
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nen. Es scheint fast so, als hätten die und dessen übergriffigen Staatsapparat Gefahr durch das Virus an unser alltäg-
zahlreichen Diskurse um den Neolibera- legitimiert hat sich in den letzten Jahr- liches Verhalten und Handeln gebunden
lismus den Staat als Herrschaftssystem zehnten ein neuer Legitimationsdiskurs ist. Wir können den Krieg gewinnen
in Vergessenheit geraten lassen. So hat durchsetzen können. In diesem sind und die Krise beenden, wenn wir uns
sich in Deutschland auch sehr schnell die demokratischen Staaten mit einer nur brav die Regeln des Staates halten.
eine spezifisch demokratische Sprach- zunehmend als unregierbar wahrge- In dieser Politik spiegelt sich exempla-
regelung der aktuellen Pandemiepolitik nommenen postmodernen Gesellschaft risch der von Rancière unterstellte Zu-
durchsetzen können. Dabei wird die konfrontiert und die Demokratie findet sammenhang: Der demokratische Staat
demokratische Frage dieser Pandemie als Einhegung dieser gesellschaftlichen muss die Handlungen der Bevölkerung
meist in die Richtung einer Konfrontati- Entwicklung Eingang in einen staatslegi- möglichst weitgehend zu deren eige-
on zwischen demokratisch-liberalen und timierenden Diskurs. Geschützt werden nem Schutz reglementieren, um diese
populistischen Regierungen und Staats- muss die Demokratie jetzt vor der Über- Krise lösen zu können. Dieser pastora-
apparaten aufgedröselt. In dieser Lesart griffigkeit der eigenen Gesellschaft; der len Regierungspraxis wird alles andere
stehen sich die vernünftige, weitgehend Feind der Demokratie wird also konse- untergeordnet. Wie und ob just-in-time
erfolgreiche und abwägende Politik quent in das Innere der demokratischen Lieferketten, wie sich die globalen
demokratischer Staaten und die irratio- Staaten selbst verlegt. Es ist ja augen- Reisen der reichen Teile der Weltbevöl-
nale, gescheiterte und böswillige Politik scheinlich, dass auch der Virus, trotz der kerung oder das geltende Arbeitsrecht
populistischer Regierungen gegenüber. allgegenwärtigen Kampf- und Kriegs- auf das Infektionsgeschehen auswirken,
Nun ist aber ausgesprochen auffällig, rhetorik, kaum als ein äußerer Feind spielt, wenn überhaupt, eine periphere
wie sich noch während der Pandemie erscheinen kann. Er haftet sich immer Rolle; wichtig ist, dass sich die Men-
und dem staatlichen Ausnahmezustand den Menschen an, er ist immer nur als schen sich in ihrem privaten Verhalten
überall auf der Welt gesellschaftliche Hybrid anwesend. Ein Kampf gegen das an die Regeln des Staates halten.
Proteste formieren und eine ganz an- Virus kann also nur einen Kampf gegen
dere demokratische Lesart dieser Krise den Feind in uns selbst sein. Trotz der Nun hat Rancière aber noch einen zwei-
nahelegen. vielen Versuche, das Virus in ein Außen ten Demokratiebegriff, welcher sich
zu verbannen, wenn beispielsweise explizit an einer subversiven Praxis der
Mit Rancières Idee einer subversiven Laschet die infizierten osteuropäischen Gesellschaft orientiert. Demnach sind
und rebellischen Demokratie (Rancière Leiharbeiter*innen aus der Bevölkerung demokratische Prozesse daran zu erken-
2011, Linpinsel 2020) lassen sich die exkludiert oder auch die Debatten um nen, dass sich gesellschaftliche Grup-
diversen Protestereignisse als Ausdruck einen Immunitätsausweis von der Idee pen, die bisher nicht gesehen oder ver-
einer demokratischen Gesellschaft ausgehen, dass sich feinsäuberlich zwi- nommen wurden, in Szene setzen und
interpretieren. Wurde die Demokratie schen Feind und Freund selektieren las- damit nicht gehörte und vernommene
während des Kalten Kriegs meist noch se, haben wohl auch fast alle Menschen Perspektiven auf soziale Konflikte er-
in ihrer Opposition zum Totalitarismus möglichen. Von dieser Idee ausgehend
verstanden, dass die Eindämmung der
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